Dort, wo er einst saß, steht heute ein Fernseher.

"Wie man den Oskar noch g'habt haben," sagt der Rudolf, "hamma den net braucht." Sein Blick schwenkt in die verwaiste Stammtischloge. Mit der Trauer der Kapitulation in der Stimme fügt er hinzu: "Das war vielleicht ein leinwander Bursche." Die Frau Erni hinter der Budel nickt stumm. Sie ist sehr blond und voll der Erinnerungen. Abends hat er gerne eine saure Preßwurst gegessen und mittags zumeist ein Naturschnitzel mit Reis. Manchmal preschte er mit einem Buschen roter Rosen im Arm direkt zu ihr an den Herd und nahm ihr den Kochlöffel aus der Hand, um alles zu überprüfen. Immer wieder hatte er illustre Figuren wie die blutjunge Nastassja Kinski oder den TV-Menschen Wolf in der Maur an der Hand, die voll Andacht mitverkosteten oder im ersten Fall nur groß schauten.

"Picken blieben ist er gern," erzählt der Rudolf, ein pensionierter Bodenleger mit viel Haar im Nacken und wenig am Kopf, "aber theatermäßig hat man sich ihm nicht nähern dürfen." Die Werner-Adoranten, die sich ins Wirtshaus "Zur Goldenen Schale" in der Lange Gasse pirschten, bekamen Saures. Da warf er sich den Schauspieler-Schal um den Nacken und wurde "leicht ordinär". "Geht's scheißen" oder "Jetzt geht's mir alle am Oarsch", ja, das hat er manchmal schon gesagt. Doch er war immer elegant. Auch beim Ordinärsein. Irgendwann hinterließ er eine Papierserviette, auf die der Satz "Es ist so schwer ein Mensch zu sein - im Leben und auf der Bühne" gekritzelt war. Die Frau Erni blickt betrübt auf den benachbarten Supermarkt. "Dort," sagt sie mit Bruchstellen im Timbre, "dort ist er immer einkaufen g'angen. Ganze Körbe voll Essen hat er angeschleppt und wenn er zuvül g'habt hat, haben's ihm meine Gäst' nach Haus' tragen."

Der Akt des Kochens war Oskar Werner ein heiliger Zeitvertreib. In die Küche durfte keiner. "Hier bin ich der Kapitän," bellte er seine damalige Sekretärin Nicolin Kunz an, als sie in seinem Liechtensteiner Anwesen trachtete, den Fuß über die Schwelle zu setzen. Im Schlepptau der Mutter wurde sie zum Einkaufen in den Ort verschickt. Und wehe ihnen, wenn sie zehn Minuten nach der festgesetzten Deadline voll bepackt über den Hügel keuchten. Dann rastete "Oskarle", so nannte ihn die viel geliebte und viel gehaßte Mutter, aus. Und Nicoline, die 1974 die leise Ahnung von ihrem späteren Schauspieler-Beruf nie vor ihm auszusprechen gewagt hätte, bekam ihren Spitznamen "Saure Milch-Blunzn" in aller Lautstärke um die Ohren geknallt. Da die damalige Lebensgefährtin, die deutsche Schauspielerin Antje Weisgerber, stets und unwidersprochen eine "Filigranblunzn" geheißen wurde, nahm sie's beschränkt tragisch. Alle schwiegen freundlich, wenn ihm selten, aber doch ein Gericht entglitt. "Jeder wußte, daß ein rabenschwarzes Backhuhn mit dunkelrosa Innenleben schlichtweg kein Tischthema war", erinnert sich die Kunz, die sich nach zwei Monaten wieder zu einem eigenen Leben entschloß.

"Charakter ist Schicksal," hat er in Interviews immer wieder vor der eigenen Außerordentlichkeit kapituliert und bei Lesungen die Worte seines angebeteten Rilke "Ausgesetzt auf den Bergen des Herzens" in den Zuschauerraum geschickt. Für die, die ihn in den letzten Jahren seines Lebens begleiteten, wurde Oskar Werners letzter Akt zur intensiven Selbstaufgabe kräfteraubend und kostbar.



22.10.1994